TAGEBUCH

Hier können Sie sich künftig über den realen Verlauf einer ehrenamtlichen Wegbegleitung informieren. Frei nach dem Motto: "Wie geht ehrenamtliche Wegbegleitung?" Selbstverständlich sind alle Informationen und Daten vollständig anonymisiert und so verfremdet, dass sie keine Rückschlüsse auf die handelnden Personen zulassen. Unsere Wegbegleiterin Veronika gibt persönliche Eindrücke in ihre aktive Wegbegleitung:


Das erste Treffen


Ich treffe mich mit der Vormundin vor dem Haus, in dem Lara aktuell auf der zweiten Etage wohnt. Das Haus wirkt auf mich nicht einladend. Ich sehe Fenster, die von innen mit abgerissener Folie beklebt sind. Dort oben sollen Kinder untergebracht sein? Bestimmt ist das nur ein Abstellzimmer, denke ich. Zusammen mit der Vormundin gehe ich die Treppe rauf und öffne die Tür zur Wohngruppe. Es handelt sich um eine koedukative (geschlechtergemischte) Wohngruppe mit 6 Kindern. Ich wundere mich noch, dass wir das Haus bzw. die Wohngruppe einfach so betreten können. Es gibt keine Klingel - zumindest habe ich sie nicht wahrgenommen - oder eine verschlossene Eingangstür - weder zum Haus noch zu der Wohngruppe. Kann hier jede/r Fremde einfach so hereinkommen? Ich spüre, dass mir das nicht gefällt. Aber ich mische mich hier nicht ein. Sicher ist es gut und richtig, dass die Vormundin hier großes Vertrauen genießt. Mein erster kritischer Eindruck setzte sich fort. Wie das ganze Haus von außen, sieht es auch in der Wohngruppe nicht besonders einladend aus. Ein langer Flur wird von einer Küche unterbrochen, der wiederum zu zwei anderen recht langen Fluren führt. Die Vormundin geht in das "Erzieher:innen-Zimmer". Sie kennt sich schon aus. Ich warte vor der Tür. Ich bin leicht nervös. Wie wird die erste Begegnung mit Lara werden? Wie sieht sie aus? Wie groß ist sie schon? Werden wir einen Zugang zueinander finden? Ich freue mich zum ersten Mal ihre Stimme zu hören, die jedoch ängstlich klingt: "Ich will die Frau nicht kennenlernen." Ich habe das erwartet, obwohl Lara auf das Treffen gut vorbereitet wurde. Sie hat in den letzten Monaten so viele neue Menschen kennenlernen müssen. Den Mann vom Jugendamt (ASD = Allgemeiner Sozialer Dienst), die Vormundin, Ärzt:innen und Begutachter:innen, die Kinder in der Wohngruppe, das Umfeld drumherum, Erzieher:innen und Pädagog:innen, die Lehrer:innen in der Schule und die Kinder in der Klasse. Die Aufzählung ist bestimmt noch nicht vollzählig. Und jetzt kommt schon wieder jemand und möchte sich mit Lara beschäftigen und stellt ihr vielleicht einige Fragen. Natürlich macht ihr das Angst. Ich kenne ja schon ganz grob ihre Vorgeschichte.  Ich habe davor Respekt und weiß gar nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Warte ich oder betrete ich das Zimmer? Eine Erzieherin ermutigt mich, in das Zimmer zu gehen. Es strömt aus mir heraus: "Hallo Lara, ich bin die Veronika. Ich habe gehört, dass Du gern puzzelst. Daher habe ich Dir ein schönes Puzzle mitgebracht. Hast Du Lust, mit mir zu spielen?". Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten und das Eis ist schnell gebrochen: "Ja, das möchte ich gern. Können wir ins Wohnzimmer gehen?". Lara lächelt und freut sich und beobachtet mich dennoch mit kritischem Blick. Wir spielen zusammen mit der Vormundin ein Gesellschaftsspiel nach dem Anderen. Lara wirkt auf mich recht unruhig und kann sich gar nicht so richtig auf die Spiele konzentrieren. Viel lieber möchte sie Fernsehschauen, sagt sie. Aber ihre Vormundin erklärt ihr noch einmal, dass es heute besser ist, gemeinsam zu spielen, damit sie mich kennenlernen kann und auch ich die Chance habe, sie kennenzulernen. 

Plötzlich bittet sie die Vormundin die Adresse ihrer Mama herauszufinden. Lara möchte ihr einen Brief schreiben und ihr sagen, dass sie nicht böse auf sie ist. "Sie soll doch nur einmal kurz anrufen und sagen, dass es ihr gut geht. Lara möchte ihr sagen, dass sie ihre Mama lieb hat. Ein paar Minuten reichen dafür. Nur einmal kurz melden, das wäre schön." Ich muss zweimal schwer schlugen, zeige aber nach außen keine Reaktion, sondern höre aufmerksam zu. Ich weiß, dass ihre Mutter sie damals von heute auf morgen verlassen und sich nie wieder gemeldet hat. Sie scheint untergetaucht zu sein. 

Lara erzählt mir, dass sie bald 8 Jahre alt wird und erklärt mit den Fingern, wie lange sie noch schlafen muss, damit sie endlich Geburtstag hat. Viermal streckt sie beide Hände mit fünf Fingern in die Höhe und dann einmal drei Finger an einer Hand. Das heißt, sie muss noch dreiundvierzig mal schlafen, und dann hat sie endlich Geburtstag. Ich spüre, dass die anfängliche Distanz schwindet. Sie kann sich gut auf mich einlassen. Mir fällt das umgekehrt auch nicht schwer. Sie ist ein hübsches kleines Mädchen mit großen interessierten Augen. Sie trägt einen rosa-Prinzessinenrock und hat eine sehr liebenswerte Art. Ich mag sie.

Als ihre Vormundin sich verabschiedet, spielen wir noch eine halbe Stunde weiter. Beim Spiel "Ich sehe etwas, was Du nicht siehst" habe ich keine Chance zu gewinnen. Sie wirkt auf mich raffiniert und clever. Sie sucht sich Farben an Stellen aus, die mir einfach nicht auffallen und freut sich riesig, immer wieder zu gewinnen. Sie fragt mich, ob ich noch lange bleiben kann, weiß aber gleichzeitig, dass sie um 14.00 Uhr einen Therapie-Termin hat. Als ich sie frage, was sie sich zum Geburtstag wünscht, höre ich: "Ich möchte so gern ein ganz weiches und flauschiges Kuscheltier haben." Gemeinsam schauen wir uns über mein Smartphone Kuscheltiere an. Ganz schnell fällt ihre Wahl auf einen großen Bären mit einem freundlichen Gesicht. "Ich wünsche mir aber noch etwas. Und zwar kann das Sterne überall im Zimmer leuchten lassen. Wenn man im Bett liegt, dann sind die Sterne überall und man kann sie anfassen."

Dann fragt sie, ob sie mir noch ihr Zimmer zeigen soll? Ich binde einen Erzieher ein, um zu checken, ob das okay ist. Im rechten langen Flur muss ich zunächst raten, welches ihr Zimmer sein könnte. Wir gehen schließlich hinein. In ihrem Zimmer befindet sich lediglich ein Bett. Viele Dinge, wie Spielzeug und Kleidung liegen auf dem Boden. Sie bewohnt genau das Zimmer, welches ich mir vor dem Haus als Abstellzimmer vorgestellt hatte. Am Fenster befindet sich eine teils abgerissene und zerfledderte Folie. Auf mich wirkt das Zimmer alles andere als einladend und kindgerecht. Allerdings weiß ich auch, dass es sich um eine Übergangswohnung handelt, weil die eigentliche Wohnung der Wohngruppe aktuell renoviert wird. Das ganze Haus wirkt auf mich wie ein kühles und steriles Krankenhaus aus den 70er Jahren. Mir wird bewusst, dass eine solche Ausstattung mit den monetären Mitteln (klamme Kassen) der Kinder- und Jugendhilfe zu tun haben muss. Ein Zustand, der sich dringend ändern sollte, denke ich. Sicher ist es allemal besser hier zu leben, als in Herkunftsfamilien, in denen z.B. Vernachlässigung, Gewalt oder andere gefährdende Dinge an der Tagesordnung sind. Aber können sich Kinder in diesem Haus wirklich wohlfühlen? Ich ertappe mich dabei, dass mich diese Gedanken betrüben und ich das Bedürfnis verspüre, gerne etwas ändern zu wollen. Aber dafür bin ich heute nicht da, denn das ist nicht meine Motivation oder mein Auftrag. Ich möchte Lara kennenlernen und mich mit ihr beschäftigen und ihr als Wegbegleiterin beiseite stehen. Das ist zunächst Aufgabe genug, weil sie ja Niemanden außerhalb der Einrichtung hat.

Eine Erzieherin weist Lara daraufhin, dass sie noch ihre Hausaufgaben machen muss. Lara diskutiert mit ihr, dass der Erzieher Markus gesagt hat, dass sie heute keine Hausaufgaben machen muss, weil sie heute Besuch von mir hat. Natürlich ist das von ihr geflunkert, aber sie bittet mich um Unterstützung: „Veronika, kannst Du ihr sagen, dass ich das heute wirklich nicht machen muss?“. Ich kann ihr das aber nicht bestätigen und direkt fragst Du „Kannst Du mir denn bei den Hausaufgaben helfen?“. „Na klar, kann ich das. Dann lass uns mal direkt loslegen“. Schon sitzen wir am Schreibtisch in ihrem Zimmer und machen zusammen Hausaufgaben. Einige Textpassagen, die gelesen werden sollen, lesen wir gemeinsam. Das Lesen und das Rechnen fällt ihr schon noch recht schwer. Hier macht sich bemerkbar, dass sie vor ihrer außerfamiliären Platzierung noch nie eine Schule besucht hast. Hier hat sie noch viel Potential und darf noch viel lernen. Das Schöne ist: Ich helfe ihr dabei. Zwischendurch erwähnt sie, dass ihr der linke Ellenbogen weh tut. Sie zeigt ihn mir, ich schaue ihn mir an. Ich sehe kleine Pickelchen und berühre bei der Begutachtung ihren Arm. Ich finde das richtig, weil ich mich um sie sorge. Wir beziehen eine Erzieherin mit ein, die Salbe auf die Stelle, die ihr wehtut, aufträgt. Ganz schnell geht es ihr besser. Hinterher habe ich mich aber gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich sie gefragt hätte, ob ich sie berühren darf. Ich nehme mir vor, das beim nächsten Mal zu tun.
Wir verabschieden uns, verständigen uns aber vorher noch auf das nächste Treffen. Ich verabschiede mich heute von ihr und fahre mit dem Auto in Richtung Heimfahrt. Mich beschäftigt die Begegnung mit Lara. Eines ist klar: Ich bringe die Haltung mit, Lara als konstante Bezugsperson außerhalb der Wohngruppe konsequent und unbefristet begleiten zu wollen. Dabei weiß ich, dass ihre Mama unverändert eine wichtige (emotionale) Rolle in ihrem Leben spielen wird. Sobald ihre Mama wieder in ihr Leben tritt, könnte es sein, dass sie sich wieder ausschließlich ihrer Mama (Identitätsbeziehung) zuwenden möchte. Sie könnte sich von mir (Versorgungsbeziehung) lösen wollen. Darauf bin ich vorbereitet und hoffe, die nötige Reflexion mitzubringen, wenn dies passieren sollte.


Bild von Fredrik Solli Wandem aus Unsplash



Das zweite Treffen (drei Tage später)


Lara ist schon mit den anderen Kindern vorm Haus und begrüßt mich mit einem freundlichen Gesicht. Sie möchtest heute lieber mit den anderen Kindern spielen, erklärt sie mir sofort. Ich gehe erst mal hoch in die zweite Etage und lerne den Erzieher Tobias kennen und trinke mit ihm einen Kaffee. Ein ziemlich offener und aufgeschlossener Typ, der Interesse hat, mich kennenzulernen.
Wir nehmen die Kaffeetassen mit und gehen die Treppe runter und führen unser Gespräch fort. Zwischendurch ermahnt er Samuel, dass er sich nicht rechtzeitig gemeldet hat. Ich erfahre, dass die Kinder sich in bestimmten kurzen Abständen oben bei den Erzieher:innen „melden“ müssen. Sie bekommen eine Uhrzeit genannt, meist 15 Minuten später und sind verpflichtet rechtzeitig ein Signal zu geben, dass sie noch da sind. Nun verstehe ich auch, warum oben im Fenster eine große Uhr hängt, nach der sich die Kinder orientieren können. Samuel jedenfalls verspricht Besserung und wir unterhalten uns mit Lara. Sie möchte heute auf keinen Fall mit mir etwas alleine unternehmen. Sie möchte lieber mit Marco und Samuel Fahrradfahren. Auch die Erklärung von Tobias, dass ich ja nur wegen Dir aus Düsseldorf gekommen bin, ändert zunächst nichts an ihrer Entscheidung. „Dürfen wir alle etwas zusammen machen?, fragt sie. Tobias stimmt dem zu und wir dürfen zu dritt (Marco, Samuel und Lara) zum großen Spielplatz fahren. Tobias ermahnt alle drei, dass sie jetzt auf mich „hören“ müsst. Lara schnappt sich ihr Rad und Marco nimmt Samuel auf dem Fahrradanhänger mit. Ich nehme eine sehr quierlige kleine Band e wahr. Lara ist so schnell, dass ich sie fast aus den Augen verliere, denn die drei haben Fahrräder, ich hingegen bin zu Fuß unterwegs und kann den flotten Kindern kaum folgen. Samuel erklärt mir, dass ich STOP rufen soll, wenn alle anhalten sollen. Ich probiere das gleich aus und bin begeistert über die Reaktion. Es funktioniert. Alle halten sofort an, allerdings muss ich das STOP viele Male wiederholen, denn die drei düsen mir sofort wieder davon. Wir halten an einem Kiosk (das war vorher so verabredet) und die drei teilen mir  Ihre Wünsche mit, was sie denn alles an Süßigkeiten haben wollen. Alle reden durcheinander und jeder fordert meine Aufmerksamkeit ein. Bevor wir aufbrachen, hörte ich, dass Marco keine Süßigkeiten haben darf, weil er eine Regel nicht eingehalten hat. Er hat sich nämlich die Zähne nicht geputzt. Die drei schließen sich zu einem beeindruckenden Team zusammen und versuchen, mich zu überzeugen, dass auch Marco Süßigkeiten haben darf. Es ist dann halt ein Geheimnis und niemand würde den anderen verraten. Ich merke, dass ich eine Entscheidung treffen muss, bin aber mit all den Wünschen hoffnungslos überfordert. Samuel zeigt auf ein Heft mit Spielsachen. Das dürfe er ja haben. Das wären ja keine Süßigkeiten. Gleichzeitig bittet Lara um Süßigkeiten. Auch Marco redet fast gleichzeitig auf mich ein. Auch die Verkäuferin stellt Fragen. So wird das Süßigkeiten bestellen zu einer anstrengenden aber spaßigen Herausforderung. Die drei dürfen jetzt maximal drei Teile von mir haben. „Wir bekommen sonst aber fünf“, beschwer t sich Lara. Ich bleibe aber bei drei. Dennoch überrumpeln die drei mich und bestellen neben Kaugummis noch allerlei anderer Süssigkeiten in einer Mischtüte. Auch Samuel bekommt ein Getränk, weil ich der Ansicht bin, dass das ja keine Süssigkeiten sind. Ich werde von den Dreien verdonnert, die Süssigkeiten in meiner Hose mitzutragen. So geht es weiter zu einem angrenzenden Spielplatz. Ich erlebe drei Kinder, die fest zusammenhalten und sich scheinbar gut verstehen. Auch das gemeinsame Spiel auf dem Spielplatz wirkt auf mich geübt, freundschaftlich, wertschätzend und entspannt. Plötzlich kommt Tobias mit dem Rad angefahren und ist ganz aufgeregt: „Veronika, ich muss mich bei Dir entschuldigen. Wir müssen das hier sofort abbrechen. Wir haben die Regel, dass ein/e Außenstehende/r nur mit einem Kind gemeinsam unterwegs sein darf. Ich habe das völlig vergessen. Kein Problem für mich. Es ist ja nichts passiert, und wir starten direkt zum Rückweg in die Einrichtung. Ich schnappe mir einen eScooter, vergesse aber, dass in der Einrichtung gar kein offizieller Abstellplatz für den Scooter ist. Also kann ich mich auf der App am Smartphone nicht ausloggen und nach anfänglichem Moppern kommen alle wieder mit, und wir bringen den Scooter zurück. Anschließend geht’s zurück in die Einrichtung. Auf dem Weg zurück erklärt mir Tobias, warum er so streng mit den Dreien ist und warum die Regeln so eng sind. Vieles wird für mich begreiflicher. Zurück vor dem Haus der Wohngruppe spielen Marco und Samuel mit Matchboxautos auf dem Zugangsweg zur Einrichtung, den Tobias vorher mit Kreide ausgemalt hat. Lara wendest sich von mir ab und setzt Dich auf den Schoß eines anderen Mädchens. Ich spüre eine enge Verbundenheit zwischen den Beiden. Sie kuscheln auch miteinander. Lara will sich jetzt mit dem anderen Mädchen absetzen und mit ihr alleine Fahrradfahren. Tobias erklärt Dir, dass das nicht geht und sie bitte im Blickfeld bleiben soll. Das gefällt ihr nicht und sie spielt „Fahrradreparieren“. Immer wieder wirft sie mir einen kontrollierenden kurz Blick zu, während ich auf einer Bank sitze. Wenn ich zurückgucke, schaut sie wieder weg. Ich nehme ein ambivalentes Verhalten wahr. Sie ist auf Abstand, verliert aber die Blickfeldnähe zu mir nicht. Tobias ermuntert mich zu einem Experiment: „Spiel doch mal mit den Jungs mit den Autos und Du wirst schon sehen, was passiert. Lara ignorierst Du jetzt einfach in den nächsten Minuten“. Gesagt getan. Nach einem emsigen Spiel mit den Jungs, bei dem ich Lara den Rücken zuwende, springt sie plötzlich zu mir und möchtest mitspielen. Dabei schaust sie mir in die Augen. Ich denke mir: „Der Tobias kennt seine Schutzbefohlenen ziemlich genau“ und bin beeindruckt. Lara möchte nun auch endlich mein Auto sehen. Wir gehen zum Parkplatz und sie darf sich natürlich hinters Steuer setzen. Wir spielen zusammen „Autofahren“. Beim nächsten Treffen will sie nun mit mir zum Eis-Essen in den Ort fahren.
Ich bin gespannt, was mich beim nächsten Treffen erwarten wird bzw. wie ich Dich erleben darf. Zurück zur Einrichtung schlägt Tobias vor, dass ich den „Budenzauber“ einmal live miterlebe, bevor es für mich zurück nach Düsseldorf geht. Mit allen Kindern gehen wir sodann zurück in die Wohngruppe. Ich nehme die Räumlichkeiten heute ganz anders war als beim letzten Treffen. Ich nehme Bilder an der Wand wahr und alles wirkt auf mich freundlicher als beim letzten Mal. Ich frage mich, warum das so ist. Warum ich so unterschiedliche Eindrücke wahrnehme. Bei dem ersten Kontakt zu meinem letzten Wegbegleiterkind war es ähnlich. Ich erinnere mich daran. Es kommt mir wie ein dejavu vor. Ich muss mich noch einmal damit beschäftigen, warum ich unterschiedliche Eindrücke wahrnehme. Ich kann es mir auf Anhieb nicht erklären. Jedenfalls erlebe ich die Kinder nunmehr in einer rasant ansteigenden Dynamik. Es wird immer lauter und hektischer. Tobias wird mit vielen Fragen und Wünschen frequentiert. Er geht toll mit den Kindern um. Mit viel Wertschätzung aber auch mit der nötigen Strenge, denke ich. Die Kinder sollen jetzt duschen und die Bude aufräumen. Aber nichts scheint so richtig zu klappen. Ich nehme ein großes Durcheinander wahr und bin beeindruckt, dass Tobias den Überblick behält und Ruhe bewahrt. Wenn einem Jungen etwas nicht passt, wird in Fäkalsprache geschimpft. Tobias hält all dies aus. Er scheint es gewöhnt zu sein. Es beeindruckt ihn nicht. Als Samuel ermahnt wird, dass das Wohnzimmer noch nicht absprachegemäß aufgeräumt wurde, rastet er aus und tritt mit seinen Füßen in jede Tür, die er vorfindet. In der Wohngruppe wird es immer lauter. Ich nehme Geschrei und Türknallen wahr. Lara erscheint in neuer (Nacht-)-Kleidung. Die Haare sind nass und sie gibt Tobias ihr Badetuch. „Hey, willst Du mich veräppeln? Was soll das denn“. Er zwinkert mir zu. Das Badetuch ist nur an einer Seite leicht nass. Schnell wird klar, dass Lara gar nicht geduscht hast. Wie raffiniert sie ist! Tobias ermahnt sie zu duschen. Sie schimpft und wird laut. Ihre Zimmertür knallt und sie ist verschwunden. Zu diesem Zeitpunkt entscheiden Tobias und ich, dass es besser ist, dass für heute die Heimreise antrete. Er bittet mich, mich aber noch von Lara zu verabschieden. Vor verschlossener Zimmertür erscheint das aber etwas schwierig. Ich rede mit Lara durch die verschlossene Tür, verabschiede mich und verspreche ihr, in zwei Wochen wiederzukommen. Es ist so laut in der Wohngruppe, Türen knallen, es wird laut gesprochen, so dass ich ihre Reaktion nicht mehr hören kann. Ich beschließe, ihr die nötige Ruhe zu geben, verabschiede mich aus der Wohngruppe und trete die Heimreise an. Ein spannender und sehr erkenntnisreicher Tag für mich. Ich denke mir, dass es gut ist, dass stark belastete Kinder in einem professionellen Umfeld aufwachsen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich eine wichtige Stütze im Leben von Lara werden kann. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.


Bild von Markus Spiske aus Unsplash



Das dritte Treffen (eine Woche später)


folgt


Bild von aboodi vesakaran aus Unsplash



Das vierte Treffen (eine Woche später)


folgt


Bild von Lama Roscu aus Unsplash



Das fünfte Treffen (wg. eigenem Urlaub fünf Wochen später)


folgt


Bild von Aaron Burden aus Unsplash



Das sechste Treffen (zwei Wochen später)


folgt


Bild von Christopher Paul High aus Unsplash



Das siebste Treffen (zwei Wochen später)


folgt


Bild von Kilyan Sockalingum aus Unsplash



Das achte Treffen (zwei Wochen später)


In der Wohngruppe angekommen sehe ich Lara noch beschäftigt. Ein Erzieher macht noch Hausaufgaben mit ihr. Ich setze mich dazu und schaue ruhig zu. Sie macht es ganz gut, denke ich. Es ist Sommer und dennoch regnet es draußen in Strömen. Lara schnappt sich einen Regenschirm und wir laufen durch den Regen zum Auto. Wir werden ziemlich nass und haben beide Spaß dabei: "Unser erster gemeinsamer Regenschauer und das gemeinsame Laufen durch Pfützen". Wir werden uns bestimmt irgendwann einmal daran erinnern. Wir wollen zu einem Schnellrestaurant, das Kinder lieben. Lara mag heute auch noch Kuchen essen gehen. Ein leckerer Schokoladenkuchen soll es sein. Klar, kein Problem denke ich. Da hat Lara ja heute noch viel vor mit mir. Ob dieses kleine zierliche Mädchen das alles schafft, denke ich? Wir werden sehen. Aber ich freue mich, dass sie Ideen hat und scheinbar heute alles andere als ängstlich wirkt. Ich wollte mit ihr nach dem Essen im Schnellrestaurant mit ihr noch etwas spielen. Aber Lara erklärt mir im Auto ziemlich selbstbewusst, dass man das dort nicht dürfe. "Das ist verboten", sagt sie. Na gut, also parken wir das Auto und marschieren ins Restaurant. Gemeinsam überlegen wir am digitalen Bestell-Corner, was es denn geben soll. Lara weiß nicht so recht und wir überlegen gemeinsam, was ihr denn so schmecken könnte. So entscheidet sie sich für Pommes und Nuggets ohne Sauce, für einen Nachtisch und für ein Getränk. Sie muss immer wieder hochspringen, um den Bestätigungs-Button zu betätigen. Meine Hilfe lehnt sie ab, und sie schafft es auch wirklich alleine. Mir hilft sie bei meiner Bestellung dann auch noch. Mir macht es Spaß, sie einzubinden. Wir setzen uns an einen freien Tisch und erhalten recht zügig die Bestellung. Lara freut sich über all die leckeren Dinge auf dem Tisch und möchte, dass ich mit meinem Smartphone ein Foto mache und es ihrer Bezugsbetreuerin schicke. Sie schreibt auch noch zwei drei Sätze per whatsapp dazu. Das macht sie auch den ganzen Tag immer wieder während unseres Treffens. Sie spricht immer wieder Texte über whatsapp an den Gruppenchat der Wohngruppe. Ich denke mir zunächst: Hoffentlich fühlen sich die Erzieher:innen davon nicht gestört. Und dann denke ich: Lara soll sich wohlfühlen. Wenn sie es so möchte, dann ist es für mich okay und die Erzieher:innen werden ihr dann schon eine Rückmeldung geben, ob die Kontaktfrequenz zu hoch ist. Was ich allerdings bei alldem wahrnehme ist, dass Lara immer wieder den Kontakt zur Wohngruppe sucht, auch wenn von dort keine Reaktion kommt. Vielleicht gibt ihr das zusätzliche Sicherheit. Wenn dem so ist, kann das ja nur gut sein, denke ich. So setzen wir unser Essen fort und quatschen über das eine und über das andere. Das Schnellrestaurant ist ziemlich voll besucht, aber das stört uns nicht. Zurück ins Auto bittet mich Lara, das Lied "Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs" über Spotify zu spielen. Das kenne ich noch vom letzten Treffen und der Refrain ist ganz einfach mitzusingen. So suchen wir zusammen übers Smartphone den Songtext raus und singen ihn gemeinsam. Ich bin beeindruckt von Laras melodischer Stimme. Sie scheint talentiert zu sein. Das gefällt mir. Allerdings müssen wir - trotz Sommerwärme - alle Fenster hochkurbeln. "Das ist sonst peinlich", höre ich Lara sagen. Mir wäre es egal gewesen, aber natürlich nehme ich auf Lara Rücksicht. Dann fahren wir in die Innenstadt und parken in einer Tiefgarage. Das erste Eiscafé nehmen wir draußen in Beschlag und Lara bestellt ein großes Eis mit Sträuseln und dazu eine Tasse Kakao. "Du hattest Dich doch so auf ein Stückchen Schokoladen-Kuchen gefreut", erinnere ich sie. Aber Lara hat sich umentschieden. Warum auch nicht?! Ich empfehle ihr, zunächst das Eis zu essen, um dann zu gucken, ob noch Platz für den Kakao ist. Sie schaut mich ernst an: "Das schaffe ich schon". Ich entscheide mich, dass sie Beides bestellen darf. Und natürlich macht sie nach der Hälfte vom Eisbecher eine Pause und schaut mich wieder an: "Das ist zu viel, das schaffe ich nicht mehr." Ich schmunzele und habe ja damit gerechnet, aber mache ihr keine Vorwürfe. Den Kakao lassen wir stehen. Ich schaffe ihn auch nicht mehr ;-). Beim nächsten Mal versuche ich Lara davon zu überzeugen, dass es gut sein kann, eine Sache nach der Anderen zu bestellen. Ich kann ja gut auf die Erfahrung vom letzten Mal verweisen. Und ich stelle auch fest, dass es mir schwer fällt, Lara einen Wunsch abzuschlagen. Auch das muss ich noch lernen. Ich nehme das Thema mal mit in die nächste Supervision, denke ich.  Wir gehen zurück in die Tiefgarage zum Auto und fahren zurück in die Einrichtung. Lara ist richtig gut drauf. Ich freue mich darüber, dass sie so zufrieden und ruhig neben mir im Auto sitzt. Man könnte den Eindruck haben, dass wir uns schon ewig kennen. Aber so ist es gar nicht. Ich weiß, dass das nächste Treffen wieder ganz anders laufen kann und rufe mir die Bindungsproblematik von Lara in Erinnerung. Allerdings macht das mit mir nichts. Ich bin ja da, um Lara positive Beziehungserfahrungen in einem sicheren Umfeld außerhalb der Einrichtung zu ermöglichen. Der Abschied in der Wohngruppe fällt Lara ganz leicht. Sie sagt "tschüss", wendet sich von mir ab und geht in Richtung ihres Zimmers. Ich mache mich noch mit einem fragenden "Hallo" bemerkbar und eine Erzieherin ermutigt Lara, sich doch von mir höflich zu verabschieden. Das tut sie auch, und ich schließe sie kurz in die Arme und verabschiede mich. 


Bild von Brett Jordan aus Unsplash



Das neunte Treffen (zwei Wochen später)


Als ich die Wohngruppe betrete, sitzen alle beim Mittagstisch. Lara springt sofort auf, als sie mich sieht und zieht ihre "Draußen-Schuhe" an. Wir verabschieden uns und laufen die Treppe runter. Ich habe den Eindruck, dass Lara sich riesig freut, mich zu sehen und ist voller Freude auf das, was wir heute unternehmen werden. Es ist das erste Mal, dass sich Lara nicht groß auf mich einstellen muss, wie bei den letzten Treffen. Sie ist sofort präsent, offen und fragt: "Was machen wir denn heute?". Heute habe ich ein Ball-Spiel mit zwei runden Schlägern im Rucksack. Wir spielen vor der Einrichtung damit, aber Lara ist unruhig und möchte ganz genau wissen, was wir heute machen. Ich kenne das aus meiner ersten ehrenamtlichen Wegbegleitung. Die Kinder fühlen sich wohler, wenn sie genau wissen, was heute passieren wird. Sie fühlen sich oft sicherer und weniger ängstlich, wenn sie wissen, was sie erwartet und wie der Tagesablauf aussehen wird. Das gilt  insbesondere in Situationen, die für sie neu oder ungewohnt sind. Ich rufe mir in Erinnerung, wie ich mich gegenüber Lara richtig verhalten sollte. So schlage ich ihr vor, dass wir heute in die Innenstadt in ein Café fahren, wo es leckeren Schokoladenkuchen gibt (Lara liebt Schoko-Kuchen), um dort am Tisch etwas zu spielen (ich habe immer einige kleine Spiele für 2 Personen im Rucksack dabei). Alles, was neu ist, verursacht bei Lara genau diese Ängste. Das kann sie auch zum Ausdruck bringen: "Wo ist das genau? Ist das weit von hier? Wie lange müssen wir mit dem Auto dahinfahren?". Eigentlich kennt Lara die Innenstadt, aber das von mir vorgeschlagene Café kennt sie nicht. Ich versuche ihr kindgerecht zu erklären, wo das Café sich genau befindet. "Das ist genau neben dem Restaurant, wo wir neulich zu Mittag gegessen haben. Kannst Du Dich noch daran erinnern? Und es gibt dort ganz leckeren Schoko-Kuchen, den Du doch so gerne magst." "Na gut", höre ich zustimmend. Also gehen wir zum Auto. Wie immer möchte Lara den Autoschlüssel haben, um die Automatik-Funktion zu bedienen. Das mag Lara nämlich total gerne. Auch im Auto möchte sie gern das Dachfenster öffnen und das Auto starten, also auf den Startknopf drücken. Sie weiß, dass sie das alles darf, aber sie fragt mich höflich vorher danach. "Darf ich auch wieder am Smartphone spielen?". "Na klar, darfst Du das", erwidere ich ihr. Ich möchte ja, dass sie sich wohlfühlt und es spricht nichts dagegen. Lara kann unglaublich flink mit dem Smartphone umgehen. Das beeindruckt mich jedes Mal. Ich habe ganz bewusst kind- und altersgerechte Spiele per App auf meinem Smartphone installiert, weil ich weiß, wie interessiert und neugierig Lara an neuen Spielen ist. Das Café gefällt Lara. Eigentlich ist es ziemlich warm draußen, aber wir entscheiden uns, drinnen Platz zu nehmen, weil dort kaum Gäste sind. So nehmen wir Platz und bestellen den Schoko-Kuchen zusammen mit einem Kakao. Ich trinke eine Cola-Light und bestelle einen Salat. Zum Glück dauert die Bestellung einige Zeit, so dass wir am Tisch spielen können. Wir beide mögen das Spiel "RinglDing". Es wird eine Glocke in die Tischmitte gelegt, die Spielkarten werden gemischt und als verdeckter Stapel neben die Glocke gelegt. Verschieden farbige Haargummis werden um die Glocke gelegt. Und dann gehts los: Die erste Spielkarte wird aufgedeckt und wir beide versuchen, gleichzeitig so schnell wie möglich die auf der Karte abgebildete Kombination von Haargummis an einer Hand nachzustellen. Wer das zuerst schafft, muss mit der Hand, an der die Haargummis sind, schnell auf die Glocke schlagen. Wir haben einen Riesen-Spaß. Wie alle Kinder, möchte Lara gewinnen und kann es gar nicht gut leiden, wenn ich zweimal nacheinander gewinne. Da wird sie echt sauer. Ich erkläre ihr, dass sie ja nicht immer gewinnen kann und ich auch einmal gewinnen möchte. Dennoch entscheide ich mich dafür, dass sie die meisten Spiele gewinnt. Unsere Stimmung ist toll. Irgendwann kommt der Kellner zu uns und beschwert sich über uns auf lustige Art. Er ist nämlich jedes Mal irritiert, wenn die Glücke klingelt. Denn aus der Küche hört sich deren Glocke ähnlich an, und er hat sich schon fast mit den Köchen gestritten, weil er vermutete, dass sie ihn ärgern wollten. Er war schon ganz verzweifelt und fühlte sich gemobbt. Zum Glück hat sich die Situation schnell aufgeklärt. Trotzdem hat mir das echt leid getan. Wir spielen ziemlich lange und Lara möchte mir zeigen, wie gut sie schon lesen kann. So liest sie mir die Gebrauchsanleitung des Spiels vollständig vor. Ich lobe sie, dass sie schon ganz große Fortschritte beim Lesen gemacht hat. Dann genießen wir unser Essen und - wie üblich - schafft Lara nicht, das ganze Essen aufzuessen. Ich erinnere mich an meine Kindheit, in der es noch selbstverständlich war, dass der gesamte Teller leergegessen werden "musste". Was für eine schreckliche Zeit damals für Kinder, denke ich. Wir können Kinder doch nicht zwingen, wenn sie satt sind, alles aufzuessen. Zum Glück haben sich hier die Zeiten geändert. Wir fahren mit dem Auto zurück in die Einrichtung und spielen noch Federball im Garten der Einrichtung. Lara wirkt auf mich komplett ausgeglichen. Sie fühlt sich wohl und lacht viel. Als jedoch ein Mädchen mit einer erwachsenen Frau (vermutlich die Mutter) am Weg vorbeigeht, verändert sich das Verhalten von Lara. Ihr Gesicht wird sehr ernst und traurig. Sie starrt auf die beiden und ich habe das Gefühl, dass sie sich gerade komplett "weg beamt". Ich beobachte sie und lasse die Situation zu. Nach wenigen Minuten frage ich sie, ob es ihr gut geht. Sie antwortet schnell: "Ja, alles gut". Ich versuche sie mit Kaugummis abzulenken, und das gelingt mir auch. Vermutlich hat Lara sich an ihre Mutter erinnert, die vor über einem Jahr komplett aus ihrem Leben verschwunden ist. Mich bewegt die Situation. Ich spüre Mitgefühl und kann es gar nicht gut leiden, Lara traurig zu sehen. Aber so ist es eben. Ich nehme den Moment einmal mit in meine Supervision, denke ich. Vielleicht kann ich mich mit anderen Wegbegleiter:innen darüber austauschen, wie sie mit solchen Situationen umgehen. Schlussendlich war es ein schöner Tag mit Lara und ich freue mich auf das nächste Treffen.


Bild von Pond Juprasong aus Unsplash




 
 
 
E-Mail
Anruf
LinkedIn